Die Jahre während meines Studiums habe ich in einer WG verbracht. Im Kanthaus in Wurzen (in der Nähe von Leipzig) leben ebenfalls mehrere Menschen zusammen unter einem Dach, doch von einer normalen WG unterscheidet es sich sehr. Das Projekt entstand aus einer Gruppe von Menschen, die sich für Lebensmittelrettung einsetzen. Über einen Verein wurden zwei Häuser gekauft, die nun komplett gemeinschaftlich genutzt werden. Gemeinschaftlich bedeutet, dass so gut wie alles geteilt wird. Es gibt keine Zimmer, die einer bestimmten Person gehören. Stattdessen sind die Räume nach Funktion unterteilt. Neben einer Küche, einem Wohn- und einem Esszimmer gibt es unter anderem diverse Schlafräume (teils mit einzelnen Betten, teils mit mehreren), Büroräume, Werkstätten, einen Waschraum und ein Yogazimmer. Ebenso gibt es ein Zimmer in dem die Kleidung gelagert wird, welche von allen genutzt werden kann. Spätestens hier wird es wohl für die meisten Menschen gewöhnungsbedürftig. Mit anderen meine Kleidung teilen?! Es bietet allerdings einige Vorteile. Die Wäsche kann gemeinsam gewaschen werden und muss danach nicht wieder nach Personen auseinanderdividiert werden, sondern wird einfach wieder in die gemeinsamen Kleiderschränke gepackt. Die Klamotten sind dabei nach Art und Größe sortiert, so dass man schnell etwas finden sollte, das passt.
Ich war schon früher mal auf diese Art des Funktionalen Wohnens gestoßen und hatte mir die Frage gestellt ob es für mich machbar wäre so zu leben. Über das Wiki der Kuckucksmühle stieß ich dann zufällig auf das Kanthaus und dachte mir es wäre spannend ein paar Tage dort zu verbringen. Um das Kanthaus besuchen zu können musst du eine Person finden, die dort lebt und bereit ist dich zu “hosten”. Das bedeutet, dass diese Person dir das Haus zeigt, deine Fragen beantwortet und dafür sorgt, dass dein Aufenthalt für dich und alle anderen eine positive Erfahrung ist. Glücklicherweise erklärte sich Janina, die so ein bisschen das Gesicht des Hauses ist (siehe Doku vom SWR über das Kanthaus), bereit mich zu hosten.
Viele der Menschen, die im Kanthaus leben, arbeiten an Projekten, die einen positiven Beitrag im Sinne von Nachhaltigkeit und positivem Gesellschaftswandel leisten. Einige von ihnen arbeiten auch speziell im IT-Bereich, in der Entwicklung von Freier Software, was für mich besonders interessant ist. Auf der Webseite des Kanthauses gibt es eine Liste mit Projekten an denen dort gearbeitet wird.
Ein großer Fokus ist die Lebensmittelrettung. Das bedeutet, dass die Bewohnis* sich, statt ihr Essen im Supermarkt zu kaufen, hauptsächlich von Lebensmitteln ernähren, die sonst weggeworfen worden wären. Das kann bedeuten von einem Bauern Kartoffeln zu beziehen, die zu klein zum Verkaufen sind, über Kontakte an Essen zu kommen, das auf Events übrig geblieben ist oder auch eigentlich noch genießbares Essen aus den Müllcontainern von Supermärkten zu retten. Wer sich mal mit dem Thema Containern beschäftigt hat weiß was für riesige Mengen an Lebensmitteln weggeworfen werden. Im Kanthaus besteht daher nie ein Mangel an Essen. Tendenziell ist es eher manchmal eine Herausforderung die Mengen an Obst und Gemüse zu verarbeiten. Das Kanthaus betreibt auch einen Fairteiler, d. h. einen öffentlich zugänglichen Schrank in den Lebensmittel gestellt werden können, die andere sich dann kostenlos mitnehmen können. Während meines Aufenthalts im Kanthaus waren gerade viele Tomaten da. Einige davon wurden zu Tomatensoße eingekocht, andere weitergegeben und aus den übrigen eine spanische Tomatensuppe gekocht. Ein paar wenige Artikel werden noch im Supermarkt gekauft, z. B. Öl und ab und zu Nudeln. Ansonsten leben die Bewohnis* nur von dem was gerettet wurde. Das ist nicht bloß Obst und Gemüse - auch Fertigprodukte, Milchprodukte und sogar Süßigkeiten werden weggeworfen. Ich ernähre mich seit drei Jahren vegan, da ich die Tierindustrie nicht mit meinem Geld unterstützen möchte. Eine Industrie welche für riesige Mengen an Treibhausgasen verantwortlich ist, ein großer Treiber von Umweltzerstörung ist, den Hunger in der Welt verstärkt und für hunderte Milliarden von leidenfähigen Lebewesen Qualen und Tod bedeuten (neben anderen Problemen wie Antibiotikaresistenzen und Kontamination von Gewässern, etc.). Ich sehe allerdings kein Problem darin tierische Produkte zu essen, die gerettet worden sind und für die kein Geld in die Industrie geflossen ist. Daher habe ich im Kanthaus das erste Mal seit Jahren mal wieder eine Salami-Pizza gegessen, die aus einem Container gerettet worden war. Menschen die sich vegan ernähren, bei geretteten Lebensmitteln allerdings eine Ausnahme machen, bezeichnet man übrigens als “freegan”.
Was ich in solchen Wohnprojekten, in denen viele kreative junge Menschen zusammenkommen, immer wieder spannend finde sind die kleinen geniale Einfälle, um aufkommende Probleme zu lösen. Da wäre zum Beispiel das Problem anzuzeigen, welche Rückzugsräume gerade “besetzt” sind. Eine Möglichkeit wäre natürlich ein Schild an die Tür zur zu machen, das umgedreht werden kann und so “frei” oder “besetzt” anzeigt. Nur was ist wenn die Person, nachdem sie das Zimmer verlassen hat, vergisst das Schild wieder auf “frei” zu drehen? Dann wird das Zimmer ggf. lange Zeit nicht genutzt, obwohl es eigentlich frei wäre. Die Lösung, zu der die Kanthausians gekommen sind, ist den Indikator mit einer Schnur zu verbinden, die bei Benutzung des Raumes in der Tür eingeklemmt wird. Wenn man ein Zimmer nutzen will, zieht man von innen an der Schnur und schließt die Tür. Dadurch wird das Zimmer draußen als besetzt angezeigt. Wenn man das Zimmer verlässt, fällt automatisch der Indikator ein Stück herunter und zeigt an, dass das Zimmer frei ist.
Ein weiteres Problem in einem solchen Haus in dem viele Menschen wohnen, in dem oft Leute kommen und gehen und in dem niemand ein privates Zimmer hat, ist das ganze Zeug, das irgendwo liegen bleibt. Ein System, das sich für dieses Problem bewährt hat, ist der Vortex: In einem Abstellraum stehen ein paar Tische, welche die Stufen des Vortex repräsentieren. Zeug das rumsteht und von dem man nicht weiß wem oder wohin es gehört landet auf oder unter dem ersten Tisch. Alle sind aufgefordert regelmäßig dort vorbeizuschauen, ihr Zeug mitzunehmen und an den richtigen Platz zu bringen. Es werden auch Fotos gemacht, damit Menschen, die gerade nicht vor Ort sind sich zu Dingen äußern können. Nach einer Woche passiert dann der Vortex-Shift, d. h. die Dinge werden von dem einen Tisch auf den nächsten transferiert. Die Dinge die dann auf der letzten Stufe waren, werden aussortiert und wandern beispielsweise in den Verschenke-Laden im Erdgeschoss des Hauses.
Um auch ohne ein privates Zimmer Orte für persönliche Dinge zu haben, gibt es diverse Regale, Fächer und Stellplätze, die jeweils mit einem Namensschild versehen sind. Dieses kann mit einem wasserlöslichem Stift beschriftet werden. Dadurch hatte ich einen klaren Ort für meine Schuhe, für meinen Rucksack und für meine Klamotten. Auch in der Küche gibt es Fächer mit Namensschildern. Dort können benutzte Teller und Besteck, die noch nicht dreckig sind (oder sauber geleckt wurden) im eigenen Fach abgestellt und noch mal wiederverwendet werden. Dadurch muss die Spülmaschine nicht so oft laufen und das Besteck geht nicht aus.
Nette Features im Sanitärbereich sind, dass es ein Indoor-Kompost-Klo gibt (neben regulären Toiletten) sowie Wasserhähne, die durch Fußschalter betätigt werden.
Ein großer Teil der regelmäßig anfallenden Aufgaben im Haus werden gemeinsam während einer wöchentlichen “Power Hour” erledigt. Dazu treffen sich alle Menschen die vor Ort sind, und teilen die Aufgaben unter sich auf. Sehr nett finde ich, dass während der Power Hour gemeinsam Musik gehört werden kann, egal wo im Haus man tätig ist. Es gibt im Kanthaus nämlich eine Sammlung von Silent-Disco-Kopfhörern, also Köpfhörer, die über Funk einen gemeinsamen Kanal empfangen können. Eine Person stellt eine Playlist zusammen und alle anderen können mithören. Dadurch macht es mehr Spaß und es gibt ein stärkeres Gefühl von Gemeinsamkeit.
Das Kanthaus ist für viele ein Ort an dem sie sich nur temporär aufhalten. Ich stelle es mir herausfordernd vor mit so vielen Menschen zusammenzuleben, fast alles zu teilen und sich dann ständig auf neue Menschen einstellen zu müssen - ob Leute wie mich, die nur ein paar Tage bleiben, oder auch solche die etwas länger bleiben. Gleichzeitig denke ich, dass solche Räume gute Experimentiertfelder sein können, an denen sich auch andere Wohnprojekte orientieren können. Als ich online auf das Kanthaus stieß, fand ich spannend, dass sie offensichtlich bereits viel Zeit und Energie investiert haben, um ihre Vereinbarungen und Prozesse zu dokumentieren und transparent zu machen. Auf der Webseite ist eine detailierte Verfassung zu lesen, die sie sich selbst gegeben haben und eine Erklärung darüber welche Rollen es gibt und über die Prozesse die damit verbunden sind. Außerdem wird an einem Handbuch geschrieben, in dem dokumentiert wird wie alle möglichen Dinge innerhalb des Hauses praktisch funktionieren. Es gibt also viel was man sich vom Kanthaus abschauen kann. Ein Ort, um dort auf die Dauer zu leben wäre es für mich denke ich nicht. Aber es ist cool zu wissen, dass es diesen Raum gibt, an dem man ohne viel Geld zu benötigen mit sehr idealistischen Menschen zusammenleben kann. Oder an dem man einfach mal auf der Durchreise ein paar Tage Halt machen kann.
*Ich habe angefangen in meinen Texten zu entgendern. Klicke hier für eine unterhaltsame Erklärung des Konzepts.